Autorenlesung Gary Victor

Am 1.10.24 lud die DFG Bielefeld in Kooperation mit der Buchhandlung Eulenspiegel zu einer
Autorenlesung ein. Unser Gast war Gary Victor, einer der populärsten Gegenwartsautoren Haitis.
Peter Trier, Verleger und Übersetzer Victors‘, war auch vor Ort und moderierte, gemeinsam mit
Marie-Lu Matzke, die Veranstaltung. Wir konnten uns auf einen besonders interessanten Abend
freuen.


Victor, bekannt vor allem durch seine Kriminalromane, schreibt auch Theaterstücke, Kolumnen und
Radiobeiträge, arbeitet als Journalist und fördert und unterstützt junge Talente in seiner Heimat.
Seine Arbeiten stehen in der Tradition der Sozialromane des 19.Jh., in seinen Texten übt er deutlicheKritik an den sozialen und politischen Missständen seines Landes. Ein Charakteristikum seiner Schriften ist auch die Aufnahme surrealer Dimensionen, Übernatürliches findet Eingang in die Handlung.


Vorgestellt an diesem Abend wurde der Roman ‚ Eine Violine für Adrien‘.


Victor nimmt uns mit in das Haiti zu Beginn der 70er Jahre, zu Zeiten der Duvalier-Diktatur. Wir
begegnen dem 14 jährigem Adrien, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, der seine Faszination
und sein großes Talent für das Geigenspiel entdeckt und, begeistert davon, mit aller Kraft
Geigenvirtuose werden will. Nur, dazu braucht er unbedingt eine eigene Geige. Und Adrian setzt alles daran, dieses Ziel zu verwirklichen.


Unser Protagonist schildert uns seine Geschichte als Ich-Erzähler. Er lässt uns genau teilhaben an
seinen Beobachtungen der Menschen um ihn herum, seiner Familie, Lehrer, seiner Freundin, der
Politiker, aller Akteure halt, die im Verlauf seiner Geschichte die Bühne betreten. Wir erfahren seine
Pläne, seine Sehnsüchte, seine Ängste, Erfolge und Niederlagen. Diese persönliche Darstellung
verleiht dem Roman große Tiefe und Intensität. Wir verfolgen Adrians Entwicklung gespannt und
voller Empathie. Wird er sich verführen lassen vom verlockenden Angebot der Geheimpolizei?
Diese Frage wurde natürlich an diesem Abend nicht beantwortet.


Marie-Lu Matzke und Peter Trier hatten ein besonderes Konzept entwickelt, um die Lesung für alle
Teilnehmer erfahrbar zu machen. Nach einem Textvortag auf Deutsch las Gary Victor die
Originalversion weiter, währenddessen konnte man die deutsche Übersetzung auf einer Leinwand
verfolgen. Zu Beginn und zwischen den Exzerpten moderierte Peter Trier mit erklärenden und
vertiefenden Informationen. Auf diese Weise bekamen wir alle einen umfassenden Einblick in
Adriens Geschichte.


Im Anschluss an die Lesung kamen aus dem Plenum zahlreiche Fragen an den Autor, zu seiner
Biographie und den äußerst schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in seiner
Heimat. Victor berichtet von kriminellen Banden, die 3 départements terrorisieren, Gewalt und
Vergewaltigungen seien an der Tagesordnung. Als scharfer Kritiker der Regierung lebt auch Gary
Victor sehr gefährlich und fährt trotzdem mit seiner Arbeit fort. Der Autor gab uns ebenfalls
aufschlussreiche Einblicke zur kulturellen Entwicklung Haitis seit der Unabhängigkeit im Jahr 1804.
Haiti ist der erste Staat, der durch eine Sklavenrevolution unabhängig wurde. Napoleon hat den
Versuch unternommen, es wieder einzunehmen, ist aber gescheitert. Haiti ist ein kultureller
Schmelztiegel, im Laufe der Jahrzehnte beeinflusst von den Ureinwohnern, afrikanischer Kultur, von
islamischen Einflüssen, ebenso wie asiatischen, arabischen, indischen und europäischen Elementen,
auch Syrien und der Libanon finden hier Erwähnung. Ein reiches Reservoir für Fantasie also. Ein
Schlussgedanke Victors an diesem Abend, trotz aller Schwierigkeiten: ‚ ne pas oublier le sourire‘.


12.10.2024

Astrid Bock für die DFG Bielefeld