Vortrag von Prof. Dr. Andreas Marchetti, Frankreich und Europa nach der Europawahl

Vortrag von Prof. Dr. Andreas Marchetti, Universität Paderborn, 24. Oktober 2024


Frankreich und Europa nach der Europawahl

Bericht von Dr. Jutta Golawski-Braungart

„Wie stellt sich die französische Europapolitik nach der Europawahl 2024 dar?“ so dachten wir, sollte das Thema lauten. Welche Entwicklungsperspektiven ergeben sich im Lichte des erneuerten Personaltableaus der europäischen Organe? Welche Rolle will und kann Frankreich künftig in Europa einnehmen? Und wie zeigt sich nun sein Verhältnis zu Deutschland? – Doch der Ausgang der Europawahl in Frankreich führte wegen der überraschend hohen Stimmzahl für die Rechte in Frankreich zur Auflösung des französischen Parlaments und zu Neuwahlen. Eine solche Situation war nicht vorauszusehen, und deshalb traf es sich besonders gut, dass der Politikwissenschaftler
Prof. Dr. Andreas Marchetti den Zuhörer*innen die neue, veränderte Lage in Frankreich und auch das Verhältnis von Frankreich und Deutschland in der Europapolitik erläutern konnte.


Bei der Europawahl am 9. Juni 2024 erhielt die vom Rassemblement National angeführte Liste La France revient! (RN – LAF) 31,4 % der Stimmen und gewann 30 Sitze (7 mehr als bei der Europawahl 2019). Die weitere Stimmverteilung zwischen den zur Wahl angetretenen Parteien war für die damalige Regierung so ungünstig, dass Staatspräsident Emmanuel Macron noch am Wahlabend der Europawahl die Auflösung der französischen Nationalversammlung verkündete. Die vorgezogene Parlamentswahl in Frankreich fand dann am 30. Juni und am 7. Juli 2024 statt. Zu dieser Wahl wurde ein neues linkes Wahlbündnis gegründet, das nach dem zweiten Wahlgang die Wahl doch recht überraschend gewann. Der RN brachte es gemeinsam mit seinen Verbündeten auf 142 Sitze, so viele wie nie zuvor, aber deutlich weniger als in allen Umfragen prognostiziert wurde. Ausschlaggebend war dafür die „republikanische Front“ des linken und des Mitte-Lagers gegen den RN, die effektiver als erwartet funktionierte.


Emmanuel Macrons staatsmännische Geste, als Präsident das Parlament einfach aufzulösen, sei eigentlich relativ leichtsinnig gewesen, denn statistisch zeige sich, dass in den letzten Jahren die ‚rechten Kräfte‘ immer stärker geworden seien und die Solidarität der anderen Wähler gegen Rechts immer mehr abnehme. An eine so überzeugende Ablehnung der Rechten wie bei den Wahlen 2002, als in der Stichwahl Jacques Chirac mit 82,1 % der Wählerstimmen gegen 17,8 % für Jean-Marie Le Pen gewann, sei heute nicht zu denken, so Marchetti. Dieser Vormarsch rechter Parteien sei nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern deutlich.


Andreas Marchetti charakterisierte Macrons Verständnis von Europa als ‚semi-gaulistisch‘. Dieser plädiere für eine ‚souveraineté de l’Europe‘ (allgemein politisch gemeint), womit er ein ‚Europe puissante‘ (also stark, kraftvoll, mächtig) meine, also ein Europa, das seine Grenzen beherrsche (‚une Europe qui maîtrise ses frontières‘). Mit dieser Haltung könne man Macron gegenüber dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz gewissermaßen als ‚Dränger‘ oder ‚Getriebenen‘ verstehen, während Scholz mit seiner Zurückhaltung und seinen bedächtigen Entscheidungen wie ein ‚Steher‘ bzw. ‚Gebliebener‘ wirke. Das mache eine Zusammenarbeit beider, vor allem in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nicht gerade einfach. Die Probleme zeigten sich vor allem auf zwei Ebenen: der Ebene der ‚dettes‘ (Schulden) und der Ebene der ‚défense‘ (Verteidigung). Während in Frankreich der Präsident die Entscheidungshoheit hat und, wenn nötig, umgehend politische Maßnahmen beschließen kann, ist in Deutschland, verfassungsrechtlich geregelt, immer eine Beschlussfassung des Bundestages nötig. Das verlangsame Entscheidungen sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene und erschwere die deutsch-französische Zusammenarbeit,
besonders was die Verteidigung und die (Kriegs-)Wirtschaft angehe.


Interessant sei, wie das ‚couple franco-allemand‘ von der Gemeinschaft der EU-Staaten wahrgenommen werde. Da beide Länder miteinander besonders gut vernetzt sind und die bestehenden Kontakte gut pflegen, würden sie von den anderen EU-Staaten häufig dann kontaktiert, wenn neue Ideen lanciert oder politische Probleme geklärt werden sollen. Eine Statistik, die beide Länder mit großem Abstand vor den anderen Ländern an erster und zweiter Stelle zeigt, verdeutlicht, dass man sie als wichtige Vermittler in Europa wahrnimmt und konsultiert.
Emmanuel Macron, der in seiner zweiten und damit zunächst letzten Amtszeit steht, habe nun sozusagen ‚freie Hand‘. Denn erstens hat er Entscheidungshoheit (was er bereits bei seiner Entscheidung in der Rentenreform nutzte), und zweitens werde seine Partei nach dem Ende seiner Amtszeit wohl kaum noch weiter bestehen.


Der anregende Vortrag fand viel Beifall. Eine lebhafte Diskussion schloss sich an.


Jutta Golawski-Braungart