Ein Vergleich der französischen und deutschen Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts
Gesprächskonzert mit Georg Gusia: Ein Vergleich der französischen und deutschen Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts anhand von Klangbeispielen.
Kennen Sie die Orgel in der Bielefelder Jodokuskirche? Vielleicht haben Sie einen Gottesdienst oder ein Konzert besucht und die Orgelmusik im Kirchenschiff erlebt. Unsere Reise zur französischen und deutschen Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts vollzieht sich auf der Orgelempore, sodass wir sehen und hören können, wie die Orgel gespielt wird.
Unsere musikalische Reise mit Herrn Gusia beginnt mit der Marseillaise – erstaunlich für dieses Instrument? In keiner Weise, wurde doch die Orgel als Instrument für Lobgesänge – (National-) Hymnen – schon im 12. Jahrhundert in der Kathedrale Notre-Dame gespielt. War vor dieser Zeit die Begleitung einstimmig, so kam in Notre- Dame die zweite Stimme hinzu, um die Liturgie zu begleiten. Die Lieder wurden aufgeschrieben und dienten jahrhundertelang als Grundlage des französischen Orgelspiels, an die sich alle hielten. Nur Weihnachtslieder bildeten eine Ausnahme,
denn sie ließen den Organisten viel Freiraum für Interpretationen; sie weichen von den überlieferten Liedern ab.
In Deutschland bringt die Reformation eine umfassende Neugestaltung des Musikguts im Hinblick auf die Entfaltung der Kirchen- und Orgelmusik. Von daher erklärt sich das „goldene Zeitalter“ der Orgelmusik, das im 17. Jahrhundert in Nord-und Mitteldeutschland beginnt und seine Krönung im Werk Johann Sebastian Bachs findet. Das Verhältnis von Gottesdienst und Musik verändert sich. Damit einhergehend wird ein größeres Repertoire ermöglicht und dadurch die technische
Weiterentwicklungen der Orgel ausgelöst, die bis in die Gegenwart reichen. Dynamik, Klangvielfalt und von der Liturgie losgelöste Kompositionen sind möglich. Die Orgel – wie das Klavier – bietet eine Vielstimmigkeit, die den Reiz des Instruments ausmacht.
Ein Beispiel dafür ist der Organist und Komponist Johann Pachelbel (1653 – 1706). Obwohl ihn das Schicksal schwer traf (seine erste Frau und zwei seiner Kinder sind in Nürnberg an der Pest gestorben), komponierte er fröhliche Stücke. Choralvorspiele, Toccaten, Chaconnen… Durch seinen berühmten Kanon und Gigue in D-Dur beeinflusst Pachelbel noch heute die Popmusik im Bereich des Crossover und hat seine globale Fangemeinde auch dank YouTube.
Die Weiterentwicklung der Orgelmusik im geistlichen und im weltlichen Rahmen war nur möglich, weil auch die Orgeln weiterentwickelt wurden und hoch komplexe technische Meisterwerke waren. Bach zum Beispiel konnte die Orgel gar nicht allein spielen. Er musste Helfer haben, die die Luftpedale in der Orgel traten; denn vor allem die tiefen Orgelpfeifen brauchen extrem viel Luft. Diese helfende Unterstützung war mit den neuen Orgeln nicht mehr nötig.
Die französischen Orgelmusikkomponisten sind den Prinzipien des Orgeleinsatzes treu geblieben: Lieder für den Gottesdienst, Lobgesänge, Suiten und Weihnachtslieder.
Während der Französischen Revolution kam das Orgelspiel in Frankreich zum Erliegen. Deshalb ist es eine enorme Herausforderung, ein französisches Stück auf einer deutschen Orgel zu spielen, denn die Musikstücke sind auf den Orgeln wegen ihrer unterschiedlichen technischen Entwicklung nicht eins zu eins umsetzbar. Die französischen Komponisten gaben teilweise an, wie gespielt werden sollte, und bezogen sich auf die Orgeln in Frankreich. Wenn nun ein französischer Komponist auf einer deutschen Orgel aufgeführt werden soll, braucht es sehr große Kompetenz
des Organisten, die Stücke auf seiner Orgel umzusetzen. Wie Herr Gusia anmerkte, kann es mehrere Tage dauern, bis man ein französisches Stück auf einer deutschen Orgel spielen kann.
Der Vergleich der französischen und der deutschen Orgelmusik anhand von Klangbeispielen von Johann Pachelbel, César Franck, Eugène Gigout, Alexandre Guilmant, Maximilian Reger, Alain Jehan und Olivier Mession wird für alle Zuhörerinnen und Zuhörer von Herrn Gusia musikalisch auf der Orgel „in Szene“ gesetzt. Wir spüren die Klangvielfalt der Orgel in der Jodokuskirche, angefangen vo leisen „Vogelstimmen“ bis hin zu einem dramatisch dunklen, lauten, bedrohenden Tonschwall – und erleben einen Organisten Gusia, dem man bei der körperlichen Schwerarbeit zuschauen kann und der uns in die Welt der Theorie und Praxis der Orgelmusik eintauchen lässt. Ein grandioses Ereignis!