La Liberté – und ihre Grenzen. Was der „Karikaturenstreit“ über die französische
Gesellschaft verrät

Bericht über einen Vortrag von Dr. Imke Jahns-Eggert, Universität Bielefeld, Fakultät
Linguistik und Literaturwissenschaft, Fachbereich Romanistik:

Bielefeld, 6.12.2023


In den letzten Jahren hat die Veröffentlichung von provokanten Karikaturen in Frankreich zu sehr aufgeregten und dabei durchaus unterschiedlich akzentuierten Debatten geführt. Während die Ermordung des Lehrers Samuel Paty im Jahr 2020 (er besprach im Unterricht Mohammed-Karikaturen des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard) auch bei uns für Aufsehen und Bestürzung gesorgt hat, ist die Aufregung um die Pinguin-Inzest-Karikatur des “Le Monde”-Zeichners Xavier Gorce (2021) in Deutschland deutlich weniger bekannt geworden. In beiden Fällen stand jedoch dieselbe Frage im Mittelpunkt: Was ist in satirischen Zusammenhängen erlaubt, und wo endet (vielleicht) das Recht auf freie Meinungsäußerung?
Was also sagt der Karikaturenstreit über die aktuelle französische Gesellschaft und ihr Verhältnis zurFreiheit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, religiöse Freiheit) aus?


Die Referentin Dr. Imke Jahns-Eggert erläuterte zunächst historisch die Bedeutung der ‚Freiheit‘ in Frankreich, die die Reihe der drei großen Schlagworte aus der französischen Revolution anführt: ‚liberté, égalité, fraternité‘. Die Freiheit steht also an erster Stelle. Sie sei untrennbar mit der ‚indivisibilité de la République‘ (also der Unteilbarkeit) verbunden. Der Bürger habe ein Recht auf Freiheit, solange dies nicht dem Ganzen der Republik schade. Das gelte auch für die Religionsfreiheit. Um eine Vermischung zu vermeiden, hat Frankreich deshalb auch in seine aktuelle Verfassung (von 1958) das Prinzip der ‚Laïcité‘ aufgenommen, also der strikten Trennung von Religion/Kirche und Staat. Religion ist nur frei im Privaten. Aus diesem Grund wird an staatlichen französischen Schulen jedes Tragen religiöser Symbole sofort geahndet, weil es sich gegen die Schule als Symbol der Republik richte.


Der Karikaturenstreit um Mohammed-Karikaturen, der in Frankreich mit dem terroristischen Überfall auf die Redaktion des Satiremagazins ‚Charlie Hebdo‘ einen furchtbaren Höhepunkt erreichte, führte zu einer breiten Solidarität in der Bevölkerung, die sich mit dem Slogan „Je suis Charlie“ gegen die Täter wandte und für Meinungs- und Pressefreiheit stand. Die Kluft zwischen (muslimischen) Gläubigen und der französischen, meist noch christlich orientierten Bevölkerung, vertiefte sich. Dr. Jahns-Eggert versteht diese Entwicklung als Abgrenzung der westlich geprägten Franzosen und Französinnen von den „Anderen“ (Moslems, Migranten), die von außen kommen und im Grunde noch außerhalb der Republik stehen und nicht zum eigenen Kulturkreis gehören.


Der zweite Karikaturenstreit ging von einer Karikatur zum Missbrauch innerhalb der Familie aus; sie wurde in ‚Le Monde‘ veröffentlicht. Eigentlich richtet sie sich zunächst gegen eine grundsätzlich in der französischen Gesellschaft anerkannte bzw. akzeptierte Gruppe Linksintellektueller und deren Ansprüche auf radikale sexuelle Freiheit. Die Karikatur betraf also vornehmlich das kulturelle Milieu, das ‚Le Monde‘ erreicht. Jahns-Eggert kritisierte die Haltung der Chefredakteurin, die die in Frankreich doch so hochgehaltene Presse- und Meinungsfreiheit nun nicht mehr gelten ließ. Sie entschuldigte sich besonders bei der LGBTQ-Community, da die Karikatur sie verletzt haben könnte. Hier, so überlegten die Gäste des Vortrags in der anschließenden und sehr lebhaften Diskussion, muss der Verdacht aufkommen, habe die Redaktion damit ihrem gegen die Karikatur heftig protestierenden
Rezipientenkreis mit ‚woker‘ Aufmerksamkeit entgegenkommen wollen.


Abschließend wurde noch einmal über die Laïcité, die das französische Selbstverständnis gegenüber dem Staat prägt, diskutiert. Dabei gingen die Meinungen auseinander. Während einige das französische Vorbild für nachahmenswert hielten, sprachen sich andere dafür aus, dass die Religionsgemeinschaften stärker aufeinander zugehen sollten, um die jeweils grundlegenden Regeln, Rituale und Anschauungen der anderen kennen- und verstehen zu lernen.

Jutta Golawski-Braungart