Deutschland und Frankreich à la croisière des chemins – Herausforderungen der neuen Gegenwart.
Vortrag von Vincent Julien Piot, Berlin

Am 18. November sprach Vincent Piot in der Ravensberger Spinnerei. Der in Poitiers und Berlin
ausgebildete Pianist und Übersetzer warf einen kritischen Blick auf den Sprachgebrauch der beiden
europäischen Nachbarn, die sich als besondere Partner in der Europäischen Union verstehen. Er
stellte die Frage, ob in der jetzigen Krisenzeit zwischen den beiden Nachbarn Unterschiede sichtbar
werden, die sich in Wortwahl und Wortbildungen andeuten. Dazu untersuchte Piot zunächst
verschiedene Bemerkungen der letzten Zeit, die vor allem im Zusammenhang mit der Corona-Krise
und den Wahlen in beiden Ländern von Politikern geäußert wurden. Wie soll man Emmanuel
Macrons Bewertung der epidemischen Lage als „nous sommes en guerre“ – also „wir sind im Krieg“
verstehen, und was zeigt im Gegenteil dazu Angela Merkels Erklärung, dass man ‚handeln‘ werde und
‚alles gut werden würde‘? Reagiert die französische Politik in der Krise aufgeregter, ja aggressiver?


Piot legte den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf Themen der Wirtschaft und der Ökologie.
Welche Haltung lässt sich in der Wortwahl in beiden Ländern erkennen und wie werden
Formulierungen gezielt ausgenutzt, um beispielsweise Wählerschichten zu beeinflussen? So erklärte
Piot, dass sich in Deutschland im Zusammenhang mit der aktuellen wirtschaftlichen Krise eher die
Wendung „keiner ist allein“ zu hören sei, während in Frankreich davon gesprochen werde, dass man
diese Krise „quoi qu’il en coûte“ – „koste es, was es wolle“ meistern werde. Wird hier in Deutschland
eher auf Solidarität und Fürsorge gezielt, während man in Frankreich eine kämpferische Position
einnimmt? Die Antwort darauf überließ Piot dem Publikum.


Wie Sprachgebrauch in Frankreich von der Rechten im Wahlkampf genutzt wurde, zeigte Piot an dem
Ausdruck „le pouvoir d’achat“ – „die Kaufkraft“, wobei in Frankreich bei dem Wort ‚pouvoir‘ immer
die Vorstellung von ‚Macht‘ in der eigentlichen Bedeutung des Wortes mitschwinge. Marine Le Pen
habe mit der gehäuften Benutzung dieses Ausdrucks, den Franzosen noch stark mit negativen Folgen
in der Nachkriegszeit in Verbindung bringen, ihren Wahlkampf geführt und so viele Stimmen
gewonnen. In Deutschland spiele dieser Ausdruck eine geringere Rolle, hier sei der Terminus
„Inflation“ geläufiger: ein Wort, das auch im Zusammenhang mit der Nachkriegszeit stehe und hier
tabuisiert werde. In Frankreich dagegen löse es keine Ängste aus, da in den 70er Jahren die
Inflationswelle wegen günstiger Darlehen eine positive Erinnerung hervorrufe. Im deutschen
Wahlkampf spielte dieser Ausdruck aber keine sehr große Rolle.


Im Zusammenhang mit dem Ausdruck ‚Energiewende‘, was ja eine energische Umkehr intendiere,
weise die französische Bezeichnung „transition énergétique“ – „Überleitung der Energie“ (vielleicht
besser als ‚Energiewandel‘ zu bezeichnen) auf eine viel geringere Entschlossenheit zu Veränderungen
hin. Die Neigung der Franzosen, Unangenehmes zu beschönigen, belegte Piot mit dem Begriff
„décroissance de l‘économie“, was man eigentlich mit „Minuswachstum“ übersetzen müsste (das
geläufige Wort ist „Wirtschaftsrückgang“).


Piot spricht den Franzosen einen Hang zu beschönigen zu und sieht darin ein Zeichen kollektiver
Depression. Der Pessimismus, was die Entwicklung der Gemeinschaft angehe, stimme aber nicht
damit überein, wie man seine persönliche Situation beurteile. Umfragen bezeugten dies. Um die
pessimistische Weltsicht der Französinnen und Franzosen zu belegen, stellte der Referent
abschließend die zwischen 2010 und 2015 in Frankreich entstandene transdisziplinäre Denkrichtung
der „collapsologie“ – „Zusammenbruchswissenschaft“ – vor. Sie zieht den Zusammenbruch der
industriellen Zivilisation in Betracht und untersucht Risiken, Ursachen und Folgen. In Frankreich sei
dieses Schlagwort seit etwa sieben Jahren in Umlauf, weil es eben der französischen Stimmung
entspreche. Erst jetzt komme das Handbuch von Pablo Servigne und Raphaël Stevens „Comment tout
peut s’effondrer“ auch in deutscher Übersetzung auf den Markt, was auf eine größere Gelassenheit

der Deutschen hinweise. Aber man könne es auch als Zeichen sehen, dass trotz aller Unterschiede
darin, wie in beiden Ländern dennoch neuere Entwicklungen aufgenommen bzw. bezeichnet werden,
der Ideenaustausch funktioniere.


Jutta Golawski-Braungart